Das scheint auch der überparteilichen Europa-Union nötig, die bundesweit mit ca 350 Informationsständen, mit interaktiven Straßenforen unter dem Titel „Europa mitbeStimmen“, mit 6 landesweiten Veranstaltungen und vielen Podien und Diskussionen sowie Einzelvorträgen präsent war.
- Das Hauptziel der Europa-Union war wie immer eine hohe Wahlbeteiligung.
Hier kann man mit Fug und Recht sagen, dass der bisherige Abwärtstrend gestoppt wurde. In Deutschland erhöht sich die Wahlbeteiligung um ca. 5% mehr auf fast 50%, im europäischen Schnitt auf 43%.
Die Wahlbeteiligung an Europawahlen lag und liegt immer unter den nationalen und regionalen Wahlen; das liegt an der traditionellen Einschätzung über die Wichtigkeit, das liegt an der Politik der Medien, an der eigenartigen Profilierungskunst der Politiker („nicht wir sind schuld, sondern Brüssel“) und – in Deutschland – auch an dem fortgesetzt missbräuchlichen Abziehen der steuerlichen Wahlkampfmittel durch fast alle Parteiführungen (in Deutschland : ca. 50 %).
Wahlmüdigkeit heißt aber nicht automatisch Europafeindlichkeit: Polen und Slowakei haben sehr geringe Wahlbeteiligung, sind aber sonst mit Europa sehr zufrieden.
- Das zweite - eigentlich selbstverständliche Ziel - ein Sieg der europafreundlichen Parteien.
Dieses wurde nur teilweise erreicht. Wie denn auch ?
Nach dem „Erdbeben“ der seit 2008 in fast allen Teilen Europas außer Deutschland andauernden Wirtschaftskrise mit manifester Armut besonders in den südlichen Staaten wundert der Zuwachs links- und rechtspopulistischer Kräfte nicht. Man muss sogar erstaunt sein, dass in Griechenland, in Portugal, in Spanien und auch Italien nicht chaotische Kräfte die Mehrheit übernommen haben.
Am erstaunlichsten ist der Triumph Matteo Renzis und seiner Sozialisten in Italien (42%), insbesondere gegen die Anarchisten Beppe Grillos und die plumpen Anti- Merkel-Europäer Berlusconis.
Nicht die „Krisenländer“ sind heute das Problem, sondern die alten Demokratien England und Frankreich.
UKIP
England war Immer schon eher pro-britisch, pro-Commonwealth als proeuropäisch
(„continental people“) und musste mit an die Grenze des Erträglichen gehenden Sondergratifikationen bei Laune gehalten werden.
Unvergessen ist Margaret Thatchers unverschämtes („I want my money back“), unvergessen sind die Alleingänge mit den USA, unvergessen ist David Camerons sturer Gegenkurs zu einem immer engeren Zusammenschluss, zuletzt mit der Drohung zum Austritt 2017. Nun wählten die auf die Spur liberalerer Wirtschaftpolitik und weniger Freizügigkeit gesetzten Briten lieber das populistisch-brutale Original Nigel Farage als den smarten Atlantiker Cameron.
Der Front National
Der französische Bürger liebt uns, jedenfalls am meistern von allen Nachbarn, aber er vergleicht sich auch nahezu zwanghaft mit dem gewohnten Maßstab des kulturell Überlegenen und wirtschaftlich Vergleichbaren. Dieser Maßstab stimmte schon in der alten Bundesrepublik nicht, er kommt ihm leidvoll abhanden seit der Einigung und besonders nach der Jahrtausendwende: Deutschland prosperiert, auch aufgrund von einschneidenden Sozialreformen, Frankreich dümpelt mit hoher Schuldenlast dahin.
Weder die Konservativen, noch weniger die Sozialisten unter Hollande haben die Kraft zu Reformen. Das merken die alten ( kleine Angestellte, Bauern, Rentner) und die neuen Gefährdeten der Europäisierung und Globalisierung („Prekariat“), die Höheren Angestellten, die Jugendlichen und Studenten. Der Staat war aber schon immer einziger Hoffnungsträger für die Verbesserung der sozialen Lage, und wenn der enttäuscht in beiden großen Lagern, dann wählt man halt das Dritte, und das ist in Frankreich schon lange der Front National: Vater Le Pen hat schon gegen Chirac um die Präsidentschaft gekämpft, die Tochter Marine le Pen führt den FN zur stärksten Partei – allerdings „nur“ bei den E-Wahlen, oft zum Dampf-Ablasssen missbraucht, auch in Deutschland. Ventil der Modernitätsverweigerung ist der Fremdenhass, insbes. gegen Sinti und Roma, lange aber auch schon gegen die
nordafrikanischen Migranten mit französischem Pass.
Ähnliche Motive führen auch in Holland und Dänemark zu hohen Protestwerten gegen die europafreundlichen Parteien.
Die Rede vom „antieuropäische Erdrutsch“ muss aber korrigiert werden: Im Gesamtvergleich zu den auch vorher schon nationalistischen und antieuropäischen Parteien im EP beträgt der Zuwachs nur ca. 4 % .Dabei sind die Programme und Persönlichkeiten der Neuen oftmals unvereinbar, so dass eine antieuropäische Fraktionsbildung und damit politische Durchschlagskraft im künftigen Europäischen Parlament („Sperrminorität“) noch sehr unsicher ist.
Dies gilt auch für die bundesweit 7% der AfD. Zunächst ist die AfD eine noch instabile, konservative, vorwiegend eurokritische und jedenfalls nicht offen fremdenfeindliche Kraft. Es ist auffällig, dass sie in der Bilanz mit dem Verschwinden der Rechten und der Halbierung der FDP einhergeht. Die wirkliche Kräfteverschiebung kann nur eine Analyse der Wählerbewegungen der Parteien bringen. Entscheidend wird sein, in welcher Fraktion des EP sie wie stark mitwirken kann.
Den Hessenbonus von 2% mehr AfD- Stimmen müssen wir uns noch erklären lassen.
3.Juncker for President
Erstmals haben die Parteienfamilien je einen europaweiten Spitzenkandidaten aufgestellt, der auch gleichzeitig den Anspruch erheben kann, Chef der Europäischen Kommission, des „Motors“ der Gemeinschaftsinstitutionen, zu werden.
Die Parteifamiie der EVP hat trotz starker Gewinne der Sozialisten die Wahl gewonnnen, und so stellte Claude Juncker sofort den Anspruch, im Namen des Parlaments künftiger Kommissionspräsident zu werden.
Seine erste Aktion galt dem knapp unterlegenen Spitzenkandidaten Martin Schulz, dem er parlamentarische Zusammenarbeit und einen starken Posten in der Kommission (Stellvertreter und wichtiges Kommissariat) anbot. Inzwischen sind alle relevanten Fraktionen im EP für Juncker, er ist ihr Mann in der Auseinandersetzung mit dem Rat.
Das ist für bundesdeutsche Ohren schier unerträglich, aber Europa funktioniert eben anders, noch. Der wichtigere Gegner des Wahlsiegers ist nicht der Wahlverlierer, sondern der Europäische Rat, die Konferenz der europäischen Regierungschefs, die sich mit Mehrheit auf einen Kandidaten einigen müssen und die ihn dann – mit Aussicht auf Erfolg - dem Parlament zur Bestätigung vorschlagen.
Wenn die europäischen Parteifamilien aber – auf Druck insbesondere der europäischen Bewegung – sich erstmals zu einem transnationalen Wahlkampf entschieden haben, dann wollten sie auch, dass das Ergebnis durchschlägt: sie stützen fast alle Juncker. In Praxis heißt das: Das EP setzt de facto gegen den Rat seinen Kadidaten durch, politisch, nicht ganz qua Lissaboner Vertrag. Kommentar von Peter Altmaier, Altpräsident der EUD: ”...the beginning of a democratic ( r )evolution: History in making!” Auch die Regierungschefs, in der Regel auch Chefs ihrer nationalen Mehrheitspartei, machen sich vor ihren Parteien lächerlich, wenn sie jetzt einen andern auf den Schild heben.
Offenbar alle außer einem: David Cameron. Er hat seine Wahl zu Hause niederschmetternd gegen UKIP verloren, er liebt den proeuropäischen Kurs von Juncker nicht, also versucht er, die Ratskarte („Unionsmethode“) gegen den Wahlsieger zu spielen – in katastrophaler Fehleinschätzung der europäischen Medienöffentlichkeit („Westminster Bubble“), auch der britischen. Da helfen auch einsame Bootsfahrten mit den dänischen und schwedischen Nordlichtern und Angela Merkel nichts mehr: Er hat schon verloren.
Der Kurs der Europäischen Bewegung und in ihr der Europa-Union ist eindeutig Pro-Juncker, so leid es einem für die Entwicklung des britisch-europäischen Verhältnisses auch tut. Das Europäische Parlament 2.0, eine echte 2. Kammer neben dem (Minister-) Rat ist in Sicht. Wir brauchen sie auch, für die anstehenden Vertragsänderungen beim Fiskalpakt, beim Außenhandelsabkommen mit den USA, in der Finanz-, Sozial- und Außenpolitik.