Meinungsbeitrag des Vorstands der EUD-Parlamentariergruppe im Europaparlament zur Konferenz zur Zukunft Europas

„Wir einigen keine Staaten, wir bringen Menschen einander näher.“ Mit diesen Worten beschrieb einst Jean Monnet, einer der Architekten der Europäischen Union, das Leitbild des europäischen Integrationsprozesses. Die Bürgerinnen und Bürger sollten in dessen Mittelpunkt stehen und sich aktiv an der Gestaltung der EU beteiligen. Das Europa der Bürger wurde dieses Konzept benannt.

Der europäische Integrationsprozess im Sinne dieses Europa der Bürger wagt heute einen gewaltigen nächsten Schritt. Am heutigen Europatag, dem 9. Mai, beginnt die Konferenz zur Zukunft Europas. In dieser Zukunftskonferenz werden mindestens 800 zufällig ausgeloste Europäerinnen und Europäer nach ihren Wünschen, Zielen und Vorstellungen für die Europäische Union gefragt. In strukturierten Verfahren sollen Lösungen für die größten Fragen – sowohl institutionelle wie auch inhaltliche – erarbeitet werden. Zusätzlich können sich alle Menschen Europas über die Online-Plattform futureu.europa.eu und auf unzähligen Veranstaltungen in den Prozess mit einbringen. Ein solcher Beteiligungsprozess ist einmalig – nicht nur in der EU, sondern in der Menschheitsgeschichte!

Die EU hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiterentwickelt. Etwa mit der Direktwahl des Europäischen Parlaments ab 1979 oder der Einführung der Europäischen Bürgerinitiative durch den Lissabon-Vertrag. Viele Erfolge der EU werden dabei als Selbstverständlichkeit wahrgenommen: Grundrechte, Unionsbürgerschaft, grenzenloses Reisen, die Gemeinschaftswährung Euro, Abschaffung der Roaminggebühren, das ERASMUS-Programm – die Liste ist lang.

Dennoch sind viele Bürgerinnen und Bürger von der Europäischen Union enttäuscht. Dies drückt sich aus in Euroskeptizismus und erstarkendem Nationalismus in vielen Ländern Europas. Auch das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags im Jahr 2005 und die Entscheidung der britischen Bevölkerung für den Brexit belegen diese Enttäuschung und Unzufriedenheit. In Deutschland hat erstmals eine im Bundestag vertretene Partei den Austritt unseres Landes aus der EU in ihr Bundestagswahlprogramm aufgenommen. Einen erheblichen Anteil an dieser Entwicklung hat die Vielzahl der europäischen Krisen: Die sogenannte Eurokrise, die andauernden Flüchtlingsdramen oder zuletzt die zu langsame zentrale Beschaffung von Impfstoffen haben die EU in keinem guten Licht erscheinen lassen.

Bei diesen Krisen ist jedoch keineswegs die EU an sich das Problem, sondern ihre strukturelle Handlungsunfähigkeit. Es ist doch klar, dass etwa eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik miteinander einhergehen müssen. Dass die EU die entsprechenden Kompetenzen nicht hat, liegt an den Mitgliedstaaten, die der EU die notwendigen politischen Instrumente nicht an die Hand geben wollen. Es ist gut und richtig, dass die EU sich um Fragen von Asyl und Migration kümmert, doch die Blockade im Rat macht die EU auch hier handlungsunfähig. Wenn die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind eine Entscheidung zu treffen, dann gibt es derzeit leider gar keinen Fortschritt. Und auch die Entscheidung, die Covid-Impfstoffe gemeinsam zu beschaffen und die Verhandlungen der Kommission zu überlassen, ist im Kern absolut richtig gewesen. Doch wenn Ursula von der Leyen von den Mitgliedstaaten nicht die hierfür notwendige finanzielle Ausstattung bekommt, ist keine gute Lösung möglich.

In den öffentlichen Debatten um die EU und ihre Krisen wird oft übersehen, dass „die EU“ eben nicht nur „Brüssel“ ist, sondern zugleich immer auch Berlin, Budapest und Bratislava; die Macht und Verantwortung der Mitgliedstaaten muss viel öfter und öffentlicher in die Bewertung einfließen. In deren Gremium – dem Rat – gibt es intransparente Entscheidungsprozesse. Viel zu oft werden außerdem das blockierende Einstimmigkeitsprinzip angewandt und dringende Entscheidungen vertagt. Einigkeit dagegen herrschte bei der Kür der Kommissionspräsidentin infolge der vergangenen Europawahl, als die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat das Votum der europäischen Wählerinnen und Wähler in weiten Teilen einfach übergingen. All diese Beispiele zeigen, dass institutionelle Reformen längst überfällig sind. Mit einem schlichten „Weiter so“ wird die EU keine Zukunft haben.

Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in Brüssel weitgehend Konsens. Deswegen haben die drei EU-Institutionen – Parlament, Rat und Kommission – die Zukunftskonferenz auf den Weg gebracht. Diese ist eine Ausformulierung des Europa der Bürger und die größte Chance dieser Generation, um die EU auf einen besseren Pfad zu bringen. Dafür wird allerdings die Ausgestaltung der Konferenz von entscheidender Bedeutung sein. Mit mindestens 800 (die endgültige Zahl wurde bislang nicht festgelegt) zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, die unsere gesamte Gesellschaft in all ihren Facetten abbilden sollen, werden wir die größte Bürgerbeteiligung in der europäischen Geschichte schaffen. Eine starke Einbindung unserer europäischen Jugend ist essentiell, denn sie wird am längsten mit den getroffenen Entscheidungen leben. Und dies alles muss die Grundlage bilden für eine inklusive und tiefgreifende Debatte, sowohl in Präsenz als auch online. Das alles ist die Erfüllung des Versprechens von Jean Monnet, dass dieses Europa eines der Bürgerinnen und Bürger ist.

In diesem Sinne sehen wir den Ansatz des Rates sehr kritisch: Die EU-Mitgliedstaaten haben den Start der Konferenz verschleppt, durch ihre Blockadehaltung versucht, das Mandat zu verwässern, und letztendlich die Dauer der Konferenz auf ein Jahr verkürzt. Einige Mitgliedstaaten unterminieren schon vor Beginn der Konferenz deren Bedeutung. Diese Sabotageversuche sind absolut inakzeptabel und für uns nicht hinnehmbar! Eine ernsthafte Debatte über notwendige Reformen braucht eine seriöse Herangehensweise, ausreichend Zeit, angemessene finanzielle Ausstattung und die erforderliche administrative Unterstützung. Als parteiübergreifende Gruppierung, der zwei Drittel der deutschen Europaabgeordneten angehören, fordern wir die Bundesregierung dringend auf, sich hierfür mit aller Stärke einzusetzen.

Die Europa-Union Deutschland, der wir als Mitglieder angehören, setzt sich ein für ein unionsweit harmonisiertes Wahlsystem – auch Deutschland hat hier noch Hausaufgaben zu machen – mit transnationalen Listen sowie europäischen Parteien mit demokratischen Strukturen, europäischen Programmen und europäischen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, deren Wahl auch tatsächlich zur Leitung der EU-Kommission führt. Um die EU gerade auch mit Blick auf globale Herausforderungen handlungsfähiger zu machen, empfehlen wir die weitgehende Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat und eine ausreichende finanzielle Ausstattung der EU für die ihr übertragenen Aufgaben. Die Zukunftskonferenz muss ein ergebnisoffener, reformorientierter Prozess sein, bei dem Vertragsänderungen keineswegs von vornherein ausgeschlossen werden. Nach unserer Auffassung sollte dieser Prozess in einen Europäischen Konvent im Sinne von Artikel 48 des EU-Vertrags münden. Wenngleich sich die Europa-Union für den Europäischen Bundesstaat stark macht, muss die Initiative hierfür von der Zukunftskonferenz ausgehen.

Wichtig ist uns jedoch vor allem, was die Menschen in der EU denken und welche Erwartungen sie haben. Die aktive Einbindung unserer Bürgerinnen und Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft wird von zentraler Bedeutung sein für einen Erfolg der Zukunftskonferenz. Denn insbesondere ihre Ideen sind es, die wir für die Zukunft der EU jetzt benötigen. Ihre Ideen und Forderungen sind es, die in den kommenden Monaten auf lokaler und regionaler Ebene sowie auf der neuen Online-Plattform futureu.europa.eu – wo jeder seine eigenen Vorschläge einbringen kann – erarbeitet und diskutiert werden müssen. Ihre Ideen und Forderungen sind es, die für die Ausgestaltung des zukünftigen Europas die Basis darstellen und ungefiltert in die Beratungen der Zukunftskonferenz einfließen sollen. Ihre Ideen und Forderungen sind es, die am Ende des Prozesses als Ergebnisse der Zukunftskonferenz in den EU-Verträgen verbindlich festgeschrieben werden müssen. Es ist längst überfällig, unsere Bürgerinnen und Bürger wieder in den Mittelpunkt des europäischen Einigungsprozesses zu stellen.

Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Mitglieder der Europa-Union sehen wir uns in der Pflicht, uns genau hierfür mit aller Kraft und Entschiedenheit einzusetzen. Die Zukunftskonferenz muss zu konkreten Ergebnissen führen und am Ende die Erwartungen erfüllen, die in sie gesetzt werden. Es wäre eine Katastrophe für die EU und für unsere Demokratie, wenn die Konferenz zu einer reinen PR-Show verkäme. Im Idealfall aber schafft die Zukunftskonferenz ein neues europäisches Bewusstsein und eine echte europäische Öffentlichkeit, führt zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung der EU – und bringt die Menschen einander näher.

Niklas Nienaß (Bündnis 90/Die Grünen)
Vorsitzender der Parlamentariergruppe

Hildegard Bentele (CDU)
Stv. Vorsitzende

Gabriele Bischoff (SPD)
Stv. Vorsitzende

Markus Ferber (CSU)
Stv. Vorsitzender

Andreas Glück (FDP)
Stv. Vorsitzender


Die Parlamentariergruppe der Europa-Union im Europäischen Parlament besteht aus derzeit 62 Europaabgeordneten aus Deutschland.
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