Rechtsexperte Heußner plädiert in Flüchtlingsfrage für europäische Lösung

Der erbitterte Streit zwischen Bundesinnenminister Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel dreht sich um eine rechtliche Frage: Inwieweit überlagert europäisches Recht das deutsche Grund- und Asylgesetz? Artikel 16a des Grundgesetzes und Paragraf 18 des Asylgesetzes schreiben vor, dass Verfolgte in Deutschland kein Asylrecht in Anspruch nehmen können, wenn sie aus einem Mitgliedsstaat der EU oder aus einem sicheren Drittland hierher kommen. Darüber sprach die HNA mit dem Rechtsexperten und Vorsitzenden der Europa-Union Kassel Prof. Dr. Hermann K. Heußner.

Herr Heußner, hat Herr Seehofer in der Sache Recht, wenn er von der Kanzlerin fordert, dass Asylbewerber, die schon anderswo registriert worden sind, an den Grenzen zurückgewiesen werden sollten? HERMANN HEUSSNER: Nein. Herr Seehofer hätte nur dann Recht, wenn es kein Europarecht gäbe. Aber so isoliert kann man das nicht betrachten. Deutschland ist Mitglied der Europäischen Union, und damit gilt Europarecht.
Was heißt das? HEUSSNER: Es heißt, dass Europarecht Anwendungsvorrang hat. Auch gegenüber Artikel 16a des Grundgesetzes und dem Asylgesetz. Nach der Dublin-III-Verordnung gilt die Grundregel, dass jener Staat der EU das Asylverfahren betreiben muss, auf dessen Boden der Asylbewerber zum ersten Mal seinen Fuß gesetzt hat. Das erkennt man daran, dass er dort registriert wurde.
Dann hätte Seehofer ja auch nach der Dublin-Verordnung Recht: Deutschland ist doch nur von sicheren Staaten umgeben? HEUSSNER: Das Dublin-Verfahren ist ein Verfahren der Zuständigkeitsprüfung. Das bedeutet, dass bei einem Flüchtling an der deutschen Grenze zumindest geprüft werden muss, wer für ihn zuständig ist. Wenn man dann beispielsweise feststellt, dass es Italien ist, weil der Flüchtling dort registriert wurde, dann können wir nicht einfach sagen: Jetzt kommst du bei uns nicht rein. Dann muss ein Überstellungsverfahren eingeleitet werden.
Und wenn das nur lange und schwierig genug ist, dann wird Deutschland zuständig? HEUSSNER: Ja, das Verfahren krankt an bürokratischen Hürden. Aber dieses Problem soll ja jetzt bilateral in Verhandlungen gelöst werden. Dabei gibt es aber Schwierigkeiten.
Welche? HEUSSNER: Es gibt laut Dublin-Verordnung keine Zuständigkeit für den Erststaat, wenn es sich um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling handelt oder ein anderes Mitglied einer Familie, von der sich schon jemand rechtmäßig in einem anderen EU-Staat befindet. Der ist dann zuständig. Das Wichtigste der Dublin-Verordnung ist aktuell aber, dass sie auch sagt, dass die Grundregel der Zuständigkeit des Erststaates dann nicht gilt, wenn in den Staaten, die zuständig wären, kein menschenrechtsgemäßes Asyl-Verfahren zu erwarten ist. Derartiges ist von Gerichten schon über Griechenland, Ungarn und Bulgarien gesagt worden, auch schon über Italien.
Gerade mit diesen Ländern möchte doch aber die Bundeskanzlerin jetzt bilateral Abkommen schließen. Ist das nicht problematisch? HEUSSNER: Wenn Sie sich die Regierung in Rom anschauen, der es offenbar egal ist, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken, halte ich ein bilaterales Abkommen sogar für mehr als problematisch. Die Seele und Stärke Europas sind die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Man müsste es aber versuchen und überzeugende Garantien von Italien verlangen. Im Gegenzug müßte Deutschland von Italien einen Teil der Flüchtlinge übernehmen. Europäisches Recht, Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, sagt, dass ein Staat Europarecht außer Kraft setzen darf, wenn es der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit dient. Sehen Sie dazu einen Anlass? HEUSSNER: Ernsthaft zu überlegen wäre das im Herbst 2015 gewesen. Zurückweisungen an der Grenze nach deutschem Grund- und Asylgesetz hätten damals aber zu einer Überlastung der kleinen Länder auf der Balkanroute geführt. Das wiederum hätte bewirkt, dass diese Länder keine menschenrechtsgemäßen Asylverfahren hätten durchführen können. Und damit hätte man diese Staaten einschließlich Österreichs auch nicht nach deutschem Recht als sichere Drittstaaten betrachten dürfen. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio schrieb in einem Rechtgutachten, dass der Bund verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, „wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungsund Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“. Ist es das nicht, wie Sie selbst sagen, in Griechenland und Italien zweifellos? HEUSSNER: Das mag vielleicht Grenzkontrollen rechtfertigen. Man dürfte die Menschen aber nicht vor der Grenze stehen lassen, wenn sie dann von Österreich oder Italien menschenrechtswidrig behandelt würden. Die Lösung liegt woanders.
Was meinen Sie? HEUSSNER: Das Problem in der EU ist doch, dass wir die
Flüchtlinge in Europa nicht ordentlich verteilen. Bei den EUHaushaltsberatungen müsste den großen Nettoempfängern, beispielsweise Polen, gesagt werden: Wenn ihr das Geld haben wollt, müsst ihr uns bei den Flüchtlingen helfen.
Gegen den Willen demokratisch gewählter Regierungen? HEUSSNER: Auch der Verteilungsbeschluss seitens des europäischen Rats im September 2015 war demokratisch zustande gekommen. Da kann doch nicht einfach ein Staat sagen, wir halten uns nicht daran.
Das ist doch in der EU an der Tagesordnung. Deutschland selbst hat sich noch 2013 erfolgreich gegen eine Verteilung der Flüchtlinge gewehrt und erst 2016, als die Flüchtlinge hierher strömten, das Gegenteil durchgedrückt. Wäre es nicht viel sinnvoller, erst einmal die Zuwanderung zu kontrollieren, bevor man seine Nachbarn dazu verdonnern will, alle aufzunehmen, die ungehindert kommen? HEUSSNER: Bei aller berechtigten Kritik: Schauen Sie auf das EU-Türkei-Abkommen. Das ist doch schon eine europäische Lösung, durch welche die Zahl der Asylbewerber in Europa um 90 Prozent abgenommen hat.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat einen strengen Schutz der EU-Außengrenzen vorgeschlagen und Aufnahmezentren außerhalb der EU. Was halten Sie davon? HEUSSNER: Wenn wir eine europäische Asylbehörde hätten, welche die Fluchtbewegung schon an beziehungsweise außerhalb der EU-Grenzen rechtsstaatlich administrieren würde, dann wären wir aus den nationalen Interessenkonflikten in der EU heraus. Anerkannte Asylbewerber könnten dann nach einem Verteilungsschlüssel auf alle Länder der EU verteilt werden. In der Schweiz funktionieren Aufnahme-Zentren. Die Vorstellung aber, dass weniger Flüchtlinge kämen, wenn die Aufnahmezentren in Afrika, also gewissermaßen vor der Tür liegen, halte ich für falsch. Dann kämen viel mehr. Wir Deutsche sollten jedenfalls nichts tun, was die europäischen Partner vor den Kopf stößt und die europäische Einigung erschwert.